Lindemann


Biography Lindemann


Till Lindemann & Peter Tägtgren
Eine Szene wie im Western: Flake Lorenz und Till Lindemann haben während der Produktion des Rammstein-Albums »Mutter« einige Tage frei. Mit ein paar Freundinnen fahren sie in die schwedische Provinz nördlich von Stockholm. Eine kleine Dorfkneipe, das Bier fließt in Strömen, die Luft vibriert. »Es lief komische Musik und der ganze Laden war voll mit Bikern aus der Gegend«, sagt Lindemann lachend. Die heimelige Atmosphäre droht indes zu kippen, als der Ex-Freund einer ihrer Begleiterinnen eine Eifersuchtsszene vom Zaun bricht. Es droht eine klassische Dorfkneipenschlägerei, doch im letzten Moment geht unerwartet jemand dazwischen. »Das sind die Jungs von Rammstein, die sind in Ordnung«, sagt Peter Tägtgren laut und deutlich. Die Situation entspannt sich, die Nacht nimmt ihren Lauf – und endet schließlich in Tägtgrens Haus bei einigen Flaschen Schnaps aus der Destille seines Bruders.

14 Jahre nach jenem denkwürdigen Abend posieren zwei Protagonisten von damals für ein besonderes Foto. Die kunstvolle Aufnahme – sie zeigt Till Lindemann und Peter Tägtgren als morbides Brautpaar – ist Vorbote des Produkts einer besonderen Freundschaft, deren Grundstein damals in Schweden gelegt wurde. Über die Jahre waren Lindemann und Tägtgren in Kontakt geblieben, hatten immer wieder über Projekte geredet –, um jetzt mit »Skills In Pills« tatsächlich ein gemeinsames Album vorzulegen. Ein Werk, so viel darf bereits verraten werden, auf dem es den Musikern gelingt, das Beste aus ihren jeweiligen Welten zu einer hochmelodiösen Gothic-Industrial-Metal-Legierung der Extraklasse zu verschmelzen.

Vorzustellen braucht man die beiden eigentlich nicht: Till Lindemann setzt als Sänger und Frontmann von Rammstein seit 20 Jahren international Maßstäbe. Mit einem alle Aspekte ihrer künstlerischen Arbeit umspannenden Konzept haben Rammstein als Live- und Album-Künstler ein eigenes musikalisches Genre kreiert. Überdies gilt Lindemann zu Recht als einer der besten deutschen Texter; seine naturalistische Lyrik floss nicht zuletzt in zwei Gedichtbände ein. Der Schwede Peter Tägtgren wiederum hat mit Pain und Hypocrisy Death- und Black-Metal-Geschichte geschrieben. Ein unermüdlicher Tausendsassa, der jedes Instrument spielt und in seinem legendären Studio The Abyss in den vergangenen 20 Jahren alles produzierte, was nicht nur im skandinavischen Metal Rang und Namen hat.

Zwei besondere Musiker also, die ihre gesammelte Erfahrung nun konsequent gebündelt haben. Der Weg für das Projekt war freigeworden, als bei Rammstein eine längere Pause anstand und Tägtgren und Lindemann einander bei einem Festival im Sommer 2013 wiedertrafen. Der erste Song, den die beiden aufnahmen, war dann »Ladyboy«. Ein Lied über die shemale-dominierte Rotlicht-Szene von Bangkok, laut Lindemann »die traurigste Szene der Welt«. »Von diesem Momente an ergab sich alles automatisch«, erinnert sich Peter Tägtgren. »Till brachte sich massiv bei den Arrangements ein, es war vom ersten Tag an eine wunderbar beflügelnde Kooperation.«

In den folgenden Monaten entstand eine Menge Material, das die beiden schließlich in Peter Tägtgrens The-Abyss-Studio nördlich von Stockholm aufnahmen. Auf durchaus unkonventionelle Art und Weise: »Die Produktion hatte einen gewissen Urlaubscharakter«, sagt Lindemann. »Peters Studio ist direkt an einem See gelegen. Ich konnte vom Fenster aus meine Angel auswerfen, und während wir gearbeitet haben, hat immer mal wieder was angebissen.« Am Abend habe man den Fisch gemeinsam geräuchert, um dann beim Essen die Ergebnisse des Tages zu besprechen. »Normalerweise sind mindestens vier oder fünf Leute im Studio, von denen jeder andere Vorstellungen hat, die man irgendwie koordinieren muss. Bei uns war das viel stressfreier und organischer«, sagt Tägtgren.

Ganz so locker lief es freilich nicht immer, es galt durchaus Hürden zu überwinden. Die größte von ihnen war die Sprache: Till Lindemann singt hier erstmals ein komplettes Album auf Englisch. »Anfangs war ich deswegen besorgt«, sagt er. »Dann jedoch merkte ich, was für ein spannendes, komplett offenes Feld mir die fremde Sprache bietet. Es war mir wichtig, die Texte so einfach wie möglich zu halten, damit sie überall auf der Welt verstanden werden können, auch in Chile oder Russland. Trotzdem wollte ich keine qualitativen Abstriche machen, darin bestand die Herausforderung.«

Es ist vor diesem Hintergrund eine echte Überraschung, dass es Lindemann auf »Skills In Pills« gelungen ist, seinen ganz besonderen Humor auf die ungewohnte Sprache zu übertragen. Auf eine sehr simple, aber effektive Art. Bestes Beispiel: Der Titelsong, ein zynisch-spöttisches Stück über dem Umstand, dass es in unserer Leistungsgesellschaft von der Geburt bis zum Tod für alle Situationen die passende Pille gibt. »Das geht auf jemanden zurück, den ich nach einer Party flüchtig kennen gelernt hatte«, erklärt Till. »Dieser Typ war radikal gegen illegale Drogen, nahm aber den ganzen Tag über irgendwelche Pillen gegen und für alles.«

Unterlegt ist die ironische Pillenhymne mit Industrial-Sounds sowie einem langsam ansteigenden Chor. Martialische Beats und gewaltige Riffs wechseln sich mit ruhigeren Passagen ab, schließlich mündet alles in einen Instant-Hit-Hammer-Refrain: »All the left is right / All the black is white / All the fast was slow / All the loose is tight.« So beginnt ein Album, dem man den Spaß, die Frische und die besondere Energie seines Produktionsprozesses deutlich anhört. Lindemann singt melodischer und variabler denn je, die Refrains sind hochmemorabel, die Produktion ist gewaltig. »Dieser Typ ist magisch«, sagt Lindemann über Tägtgren. »Ich habe selbst einige Produktions-Skills, aber was der hier macht, ist einfach unfassbar.«

Um den Songs den passenden Rahmen zu verpassen, bediente sich Tägtgren kleinerer Tricks. So spielte er die Drums nicht mit Click ein, was die Musik automatisch organischer wirken lässt. Und für die opulenten Streicher- und Orchesterparts versicherte er sich der Mithilfe eines Freundes aus Holland, Clemens Wijers, der die von Tägtgren vorbereiteten Arrangements zu jener Größe aufblies, die sie nun auf dem Album haben.

Abgesehen von diesem Beitrag gibt es auf »Skills In Pills« keine weiteren Mitwirkenden: Peter Tägtgren hat sämtliche Instrumente eingespielt, von Till kommen die Gesänge und natürlich die Texte. »Peter ist wie ein Süßwarenautomat«, sagt Lindemann. »Man füttert ihn mit ein paar Ideen und ehe man sich versieht, hat er den entsprechenden Song geschrieben.« Zum Beispiel hatte Tägtgren noch nie in seinem Leben eine Ballade geschrieben und war auch nicht begeistert von der Idee, das jetzt tun zu sollen. Lindemann aber fand, dass die Platte auch ein langsameres Stück brauche. Also überzeugte er Tägtgren, es einmal zu versuchen. Das Ergebnis ist »Home Sweet Home«, das dem Album tatsächlich noch mal eine ganz andere Farbe verleiht und so den Raum für die nächste Attacke schafft.

Ein andermal spielte Lindemann Tägtgren einen Song von Adele vor und brachte ihn so auf den rechten Weg für das eröffnende Klaviermotiv von »Yukon«, ein kontinuierlich anschwellendes Epos, zu dem Till während einer Kanutour durch Alaska und Kanada inspiriert wurde. Das ist das Besondere an Tägtgren: Vermutlich kann sich dieser Mann nichts vorstellen, was er weniger mag als ausgerechnet Adele. Aber am Ende nimmt er die musikalische Herausforderung an. »Ich habe niemandem irgendetwas zu beweisen, außer mir selbst«, sagt er. »Es geht darum, neue Wege zu beschreiten.«

Von dieser offenen Einstellung profitiert die Platte enorm: »Cowboy«, ein Song über einen Typen, der älter wird und feststellt, dass er nicht mehr den harten Macho-Cowboy mimen kann, der er immer sein wollte, das enorm druckvolle »Children Of The Sun« oder auch das gallige »Praise Abort(ion)«: »Skills In Pills« ist ungemein mitreißend, witzig und inhaltlich substanziell – allerdings in manchen Texten auch derart explizit, dass so manchem Moralwächter das Lachen im Halse stecken bleiben dürfte. »Für diese Platte kommen wir auf jeden Fall in die Hölle«, sagt Peter Tägtgren lachend. »Wir beschäftigen uns mit so vielen schmutzigen Dingen, dass wir nur hoffen können, dass die Leute den Humor, der dahinter liegt, verstehen.«

Ohnehin ist Verständnis das Schlüsselwort dieses Albums, nicht nur den Humor betreffend: Skills In Pills« ist das Dokument einer von tiefem gegenseitigem Respekt und Freundschaft geprägten Zusammenarbeit – und genau das hört man dieser Musik in jeder Sekunde an. (Torsten Gross, 2015)

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