Was hat der noch recht junge britische Dirigent John Wilson mit seinem 1961 verstorbenen, berühmten dirigierenden Landsmann Thomas Beecham gemeinsam? Beide zeigen bzw. zeigten eine starke Neigung, Orchester zu gründen. Beecham brachte es im Laufe seines Lebens auf nicht weniger als fünf Orchestergründungen, wobei es ihm seine familiäre Herkunft erlaubte, diese auch zum Teil selbst zu finanzieren. Das weltweit erfolgreiche John Wilson Orchestra war die erste Orchestergründung des jüngeren der beiden Dirigenten und das Sinfonia of London das zweite, das John Wilson gegründet hat und dessen Ravel gewidmetes aktuelles Album auf fünf im Zeitraum von drei Jahren veröffentlichten Alben folgt, die sämtliche von der Kritik ob der Orchesterleistung, des Dirigats und der vorzüglichen Aufnahmetechnik überschwängliches Lob einfahren konnten. Das Sinfonia of London ist kein feststehendes, sondern ein projektbezogenes Orchester, dessen Mitglieder sich vor allem aus der Orchester-Szene der Hauptstadt Großbritanniens , aber auch aus Musikern anderer Nationen rekrutiert. Erstklassige Musiker alleine garantieren jedoch noch kein hochklassiges Orchester. Dazu braucht es einen talentierten Orchestererzieher, der aus den Musikern ein Ensemble formt. Das trifft in besonderem Maße für ein Ad-hoc Orchester wie das Sinfonia of London zu, das projektbezogen jeweils in kürzester Zeit zur Hochform auflaufen muss, um Konzerte und Aufnahmen abliefern zu können, die Weltklasse-Niveau haben. John Wilson ist hier offensichtlich der richtige Mann, und es dürfte kaum verwundern, wenn er im Laufe seines Dirigentenlebens erfolgreich noch weitere Orchester gründen würde, um an die von Thomas Beecham gesetzte Marke von fünf Orchestergründungen heranzukommen.
Während die vorausgehenden Alben das Sinfonia of London Kompositionen abseits des Mainstream präsentieren, ist das Ravel-Album das erste Album des Orchesters, das sich dem Mainstream widmet und sich damit der Konkurrenz zahlreicher, zum Teil bemerkenswerter Aufnahmen stellt. Tatsächlich spielt sich das Orchester gewissermaßen aus dem Stand in die Spitzengruppe konkurrierender Ravel-Aufnahmen durch schier unglaubliche Virtuosität und flotte Tempi, gepaart mit Zartheit, Detailtreue und Finesse. In „La Valse“ vermeiden Orchester und Dirigent die gerne vordergründig ausgespielte Vulgarität zugunsten mitreißend und überzeugend inszeniertem Walzerschwung. Zum ersten Mal hört man auf diesem Ravel-Album die vollständigen Originalversionen von „Ma Mère l'Oye“ und des „Boléro“ unter Einbeziehung von Triangel und Kastagnetten gegen Ende dieses den Zuhörer mitreißenden im fulminanten Ende kulminierenden Tanzes. Anstelle einer einzigen kleinen Trommel, die den bekannten Rhythmus spielt, spielen in der Originalfassung zwei Instrumente abwechselnd der linken und der rechten Seite des Orchesters. Dieser subtile Unterschied steigert die Sog, den der Ravelsche „Boléro“ ohnehin auf den Zuhörer ausübt, noch um einige Grade. Das flotte und geschmeidige Musizieren des Orchesters kommt auch den anderen Werken des Albums, den „Valses nobles et sentimentales“, dem „Alborada del gracioso“ und der „Pavane pour une infante défunte“ zugute.
Orchester und Dirigent bestehen unterstützt von einer formidablen Aufnahmetechnik des Labels Chandos die Feuerprobe auf dem Gebiet des Mainstream, auf dem sich die erste Riege der internationalen Orchester tummelt mit Bravour und steigern so die Vorfreude auf zukünftige Alben.
Sinfonia of London
John Wilson, Dirigent