Unter einem Oboenquartett versteht man traditionell eine Quartettbesetzung mit einer Oboe und drei Streichinstrumenten, einer Geige, einer Bratsche und einem Cello, dem typischen Streichtrio. Für diese Besetzung hat Mozart sein einziges Kammermusikwerk für Solo-Oboe geschrieben, das geradezu himmlisch schöne Oboenquartett KV 370. Das Repertoire für Oboenquartette in klassischer Besetzung ist ausgesprochen übersichtlich. Im zeitlichen Umfeld des KV 370 finden sich einige wenige Kompositionen für Oboe und Streichertrio, etwa von Krommer, Stamitz und Valhal. Typisch scheint zu sein, dass es pro Komponist bei einem einzigen Werk für diese Besetzung bleibt. Das gilt auch für die nähere Vergangenheit. Zum Beispiel hat Bohuslav Martinu ein einziges Oboenquartett geschrieben, das allerdings anstelle der Bratsche ein Klavier vorsieht. Benjamin Britten und Jean Françaix haben zur Literatur des Oboenquartetts in klassischer Besetzung ebenfalls jeweils ein Werk beigesteuert, letzterer im Auftrag von Janet Craxton, Gründungsmitglied des britischen Kammermusikensembles London Sinfonietta und Lehrerin dessen heutigen Solo-Oboisten Nicholas Daniels. Nicholas Daniels gründete mit seinen Kolleginnen Jacqueline Shave, Violine, Clare Finnimore, Viola und Caroline Dearnley, Cello das Britten Oboe Quartet, das sich im Laufe der Jahre auf der britischen Insel dank intensiver Konzerttätigkeit zu einer wahrhaften Institution entwickelt hat. Da wurde es höchste Zeit für das erste Album des Britten Oboe Quartet, das unter dem Titel „A tribute top Janet“ als Verbeugung vor der 1982 im Alter von 52 Jahren verstorbenen Oboengröße Janet Craxton konzipiert ist.
Janet Craxtons Glanzzeit waren die siebziger Jahre. Aus diesem Zeitraum stammen denn auch zwei speziell für sie geschriebene Kompositionen auf „A tribute to Janet“, die „Cantata“ für Oboe und Streicher von Oliver Knussen und das Oboenquartett von Jean Françaix. Die gerade einmal eine knappe Viertelstunde dauernde „Cantata“ platzt schier vor spieltechnisch höchst anspruchsvoller Passagen für das die Rolle des Sängers in der Kantate übernehmende Blasinstrument ebenso wie für die drei Streichinstrumente, die einmal flirrend für unwirkliche Stimmung sorgen und ein andermal die Melodie der Oboe mit abhackt herausgeschleuderten Akkorde konterkarieren. Die formidablen Musiker des Britten Oboe Quartet haben offensichtlich großen Spaß an dieser aberwitzigen, aberwitzig kurzen Komposition, deren Gangart im krassen Gegensatz zum Oboenquartett aus der Feder des Franzosen Jean Françaix steht, der für seine von Humor und blanker Lebensfreude gekennzeichnete klassizistische Kompositionsweise bekannt und geschätzt ist. Lebensfreue und Humor vermittelt auch sein Oboenquartett, das nicht weniger anspruchsvoll zu realisieren ist als Knussens „Cantata“ und das seine leichte, lockere Außenwirkung nur über ein perfektes Zusammenspiel erzielt, das für das Britten Oboe Quartet offensichtlich Ehrensache ist.
Benjamin Britten war gerade einmal 18 Jahre alt, als er als Absolvent des Royal College of Music für sein sogenanntes Phantasy-Quartett für Oboe und Streicher den Cobbett-Wettbewerb gewann, der von einem gleichnamigen Industriellen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem Ziel erstmals ausgeschrieben wurde, die Gattung altenglischer Gambenmusik, der “Fantazias” auf die moderne englische Kammermusik zu übertragen. Die Synthese aus alt und neu gelang dem jungen Britten unter anderem mit Anleihen aus der Klangwelt Debussys geradezu genial. Kongenial in einem einzigen großen Bogen dargeboten durch das Britten Oboe Quartet fühlt man sich in die alte Zeit der Gambenmusik versetzt und genießt dabei die von Britten aufgespannte moderne Aura.
Mozarts Oboenquartett, gefolgt von einer Bearbeitung des unvollendenten Adagio K580a durch Nicholas Daniel, erweist sich als herrlich glitzernder Diamant im relativ neuen musikalischen Umfeld des glänzend aufgenommenen ersten Albums des Britten Oboe Quartet.
Nicholas Daniel, Oboe
Britten Oboe Quartet