Nicht wenigen Jazzfans stellt es die Nackenhaare auf, wenn sie lesen, dass ein Jazzquartett, vorliegend das Quartett des Norwegers Marius Neset von einem überwiegend mit Streichern besetzten Kammerorchester klassischer Provenienz, hier der London Sinfonietta unter der Leitung von Geoffrey Paterson “verstärkt” wird. Erinnerungen an streicherüberzuckerte Produktionen, die im Overdubbing-Verfahren zwischen den Lautsprechern rosarote Wolken aufziehen lassen ziehen da sogleich am geistigen Auge vorbei. Alles schon dagewesen und ziemlich unerträglich. Warum soll das auf dem Album Snowmelt anders sein? Etwa deshalb, weil Marius Neset vom Album-Cover hinter einer wild ins Gesicht hängenden Haarsträhne skeptisch hervorschaut, als wolle es sagen: bei mir ist alles anders? Zumindest scheint die Produktion den Orchestersound nicht nachträglich in die Aufnahme gemischt zuhaben, wenn man der Botschaft des Studio-Fotos trauen kann, auf dem das um Marius Neset versammelte Jazzquartett – Marius Neset / Tenor- und Sopransaxofon, Ivo Neame / Klavier, Petter Eldh / Bass, Anton Eger / Schlagzeug – lässig, allerdings ohne Instrumente (!) im Zentrum der Mitglieder des Kammerorchesters stehen. Oder etwa deshalb, weil dies bereits die zweite Produktion des Labels ACT ist, bei der sich Marius Neset von einem Orchester begleiten lässt, neigen Labeleigentümer doch dazu, auf Gewinn, jedenfalls auf Kostendeckung zu achten? Allerdings handelt es sich im Falle von Lion um ein sogenanntes Jazzorchester, genauer um das Trondheim Jazz Orchestra und nicht etwa um ein streicherdominiertes Ensemble. Schließlich könnte alles anders, jedenfalls weniger schlimm als befürchtet sein, weil Marius Neset wie auf Lion auch auf Snowmelt ausschließlich Eigenkompositionen eingespielt hat, wobei dem kundigen Jazzfan geläufig ist, dass Marius Neset nicht nur als genialer Saxofonist gehandelt wird, sondern auch als nicht weniger genialer Komponist und Arrangeur gilt. Um Klarheit zu verschaffen, welche Rolle der Orchestersound auf Snowmelt spielt, hilft nur, den Download starten und hineinhören.
Der Meister von Snowmelt höchstpersönlich eröffnet das Schauspiel mit dem Prologue, der als laut überblasener Urschrei im hohen Register des Sopransaxofons solo anhebt und in zart hingetupften leisen Skalen verklingt. Es schließen sich an sieben mehr oder weniger kurze Erzählungen unter der gemeinsamen Überschrift Arches of Nature, beginnend mit Sirens, einem im Stile der französischen Klassikkomponisten Roussel und Debussy dahinwirbelnden Sirenengesang unter Beteiligung des Jazzquartetts und zurückhaltend eingesetztem Streicherkörper. Acrobatics bietet Anklänge an Gershwins, Bernsteins und Strawinskys Klangfarbenwelt mit einem zentralen, akrobatisch beschwingten Auftritt des Quartetts, der super beschleunigten Wiederhall in ganz großer Besetzung mit Streichern, Holz- und Blechbläsern findet und schließlich in atemloser Hatz ein unvermutetes Ende findet. Circles folgt auf Acrobatics ohne Pause mit einem einsamen Trompetenruf ganz im Stil von Strawinskys Die Geschichte vom Soldaten, die man meint, für kurze Zeit nacherzählt zu bekommen, würde sich da nicht alsbald als Kontrastprogramm, vom Kammerorchester alleine angestimmt, von Hornrufen durchwirkt und schließlich vom Tenorsaxofon verfremdet die Wunderhornwelt Gustav Mahlers auftun. In Caves jagen sich Quartett und Kammerorchester durch eine Travestie der Wunderhornwelt, um schließlich in Paradise ausgiebig zur Ruhe zu kommen und sich der Kontemplation hinzugeben, sich das im Paradies wohl gehört. Rainbows erweist sich zunächst als vielfarbiger Ausflug in die Welt des luxuriösen Big Band Sound, zu genießen bei der abendlichen Entspannung, am offenen Feuer, im Sessel sitzen, einen Whisky genießend, knapp am Kitsch vorbei, der dank drastischem Stimmungsumschwung nach kurzem Wellnessausflug löblich zunichte gemacht wird. Zutiefst kontemplativ geht es im Finale der Arches of Nature, in Pyramides zu, das Anklänge an streicherlastigen Sound der fünfziger Jahre nicht ganz verleugnen kann.
Nach dem vielgestaltigen Prologue gibt es eine ausgedehnte Verschnaufpause mit The Storm is over, bevor das Album schlussendlich mit dem zwölf Minuten langen Titelsong Snowmelt folgend auf das zugehörige Vorspiel Introduction to Snowmelt mit von entspanntem Orchesterraunen gestütztem, sanftem, ruhigem Gesang des Tenorsaxofons, wiederum ein wenig geigenlastig, ausklingt: nicht der stärkste Song des Albums, aber mit Hinblick auf die thematisierte Schneeschmelze nach dem vorausgehenden teils turbulenten Geschehen dramaturgisch gesehen schlüssig.
Das Album Snowmelt ist ein gelungenes Crossover von Jazz und Klassik, das auch auf der klassischen Konzertbühne eine ausgesprochen gute Figur machen würde, eine Figur, die aktuellen Kompositionen der sogenannten klassischen Moderne den unbändigen Schwung des zeitgenössischen Jazz, aber auch eine Reihe pfiffiger Einfälle voraus hat und das damit einiges an Unterhaltungswert bietet, den man bei der zumeist akademisch vorbelasteten klassischen Konkurrenz eher selten antrifft. Man muss den Machern von Snowmelt ohne Wenn und Aber zugestehen, dass von dem eingangs geäußerten Vorurteil einer mit kammerorchestraler Tünche überzogenen Jazzdarbietung nicht die Rede sein kann. Vielmehr schmilzt dieses Vorurteil beim Abhören des Albums im Nu schneller weg als der in der ersten Frühlingssonne dahinschmelzende Schnee. Ganz dicke Empfehlung!
Marius Neset, Tenor- und Sopransaxophon
Ivo Neame, Klavier
Petter Eldh, Bass
Anton Eger, Schlagzeug
London Sinfonietta
Geoffrey Paterson, Dirigent