Pianisten, die im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Klavier verschmelzen, deren Energie beim Spielen voll in das Klavier fließt und in wunderbarer Weise beim Publikum als unglaublich nuancenreiche Musik ankommt, deren Ursprung offenbar nicht auf die von der Fingertechnik des Pianisten in Gang gesetzte Klaviermechanik, sondern auf wundersame Weise allein auf die Anwesenheit des Pianisten vor dem Klavier zurückzuführen ist, gibt es selten, ganz selten. Einer dieser Ausnahmepianisten war der Brite John Ogdon, der bereits im zarten jugendlichen Alter aus dem Klavier klangliche und musikalische Wunder hervorzauberte, die mit größter Selbstverständlichkeit zustande zu kommen schienen. Die Einheit von Pianist und Klavier ging dabei soweit, dass sich vom Publikum sehr wohl wahrgenommen die Atmosphäre im Konzertsaal änderte noch bevor der erste Ton erklang. Diese unbedingte und vollständige Hingabe an das Musikmachen hatte zur Folge, dass sich John Ogdon viel zu früh, wie eine an beiden Enden angezündete Kerze verbrauchte und als psychisches Wrack endete.
Vier Jahrzehnte später betritt der Pianist Daniil Trifonov die Bühne, der in ähnlich jugendlichem Alter als Ausnahmepianist vergleichbare Wunder am Klavier vollbringt und in vergleichbarer Weise sein Publikum umgarnt wie seinerzeit John Ogdon. Wie dieser ist Trifonov nicht nur ein Pianist, sondern auch ein produktiver Komponist, der seine Klavierwerke öffentlich aufführt. Und wie dieser ist Trifonov erster Preisträger des Moskauer Tschaikowski-Wettbewerbs, der seiner Karriere international in Schwung brachte. Auf das kürzlich von Kritik und Publikum emphatisch aufgenommene Liszt-Album folgt nun mit dem Album Chopin Evocations eine Reminiszenz an den polnischen Pianisten/Komponisten Frédéric Chopin, auf dem Trifonov neben Werken des Polen auch solche anderer Komponisten versammelt hat, in denen Chopin mehr oder weniger stark nachklingt.
Die Genialität des Daniil Trifonov erschließt sich am ehesten aus Chopins Variationen über Mozarts "Là ci darem la mano", die in seiner Interpretation wie eine frisch ins Werk gesetzte Improvisation und nicht wie eine auf Notenpapier gebannte zweihundertjährige Komposition erklingen. Unweit von diesem Ansatz präsentiert Trifonov die beiden Klavierkonzerte Chopins. Begleitet wird er vom Mahler Chamber Orchestra unter der Leitung von Mikhail Pletnev, der für die überarbeitete Orchestrierung des von Chopin unstrittig nicht allzu professional gestalteten Orchesterparts verantwortlich zeichnet. Selber ein Pianist mit internationalem Standing war es Pletnev offensichtlich ein Anliegen, den Beitrag des vom Komponisten arg stiefmütterlich behandelte Orchesters in beiden Konzerten vorsichtig in ein besseres Licht zu setzen, was ihm auch geglückt ist. Gewissermaßen in himmlische Sphären transzendiert erfahren beide Konzerte in den Händen von Daniil Trifonov die denkbar beste Interpretation. Überirdisch ins Nichts verklingend und schwerelos wie feine Zirruswolken am Himmel schwebend zieht das Fantaisie-Impromptu vorbei. Zusätzliche Farbe ins Spiel bringen auf Chopin Evocations die Komponisten, deren Aktivität von Frédéric Chopin angeregt ist, nämlich Robert Schumann mit seinem "Carnaval", Edvard Grieg mit seiner "Hommage à Chopin", Samuel Barber mit einem Nocturne, Tschaikowsky mit einem seiner Morceaux op. 72 und Frederic Mompou mit Variationen über Chopins Prélude in As-Dur. Diese Chopin-Kompositionen spiegelnde, von Daniil Trifonov meisterhaft umgesetzten Fremdkompositionen machen aus dem überwiegend dem polnischen Meister selbst gewidmeten Album ein spannendes Kompendium, das sich in seiner Zusammenstellung wohltuend vom Üblichen anhebt.
Es wäre ein unverzeihlicher Fehler, sich dieses Album nicht herunterzuladen. Mögen noch zahlreiche weitere Alben des Daniil Trifonov von eben dieser außerordentlichen Qualität folgen, und möge dieser Ausnahmepianist aus dem allzu frühen Karriereende John Ogdons die Lehre ziehen, seine ins Klavier transferierten Energiereserven nicht unzeitig früh zu verbrauchen.
Daniil Trifonov, Klavier